Die Wissenschaft hinter Cannabis und Covid-19

Medienberichte zu Cannabis und Covid-19 haben natürlich das Interesse von Cannabis-Gläubigen auf sich gezogen. Diesen Monat kratzt Paradises Undercover Scientist unter der Oberfläche, indem er sich die Details der wissenschaftlichen Studien anschaut, die hinter den Medien-Schlagzeilen stehen.

Wenn man sich das Thema Cannabis und Covid anschaut, gibt es drei Themenkomplexe: Die Wirkung von medizinischem Cannabis auf einen mit dem Covid-Virus infizierten Körper, die Wirkung der Pandemie auf den Cannabiskonsum, und wie die Rezeption von wissenschaftlicher Forschung während der Pandemie das zukünftige Verständnis von Cannabis-Wissenschaft beeinflussen könnte.

Cannabis und Covid 19: Statistik und die persönliche Einstellung

Der weltweite Ausbruch von Covid-19 hat nicht nur zu viel wissenschaftlicher Forschung geführt, sondern auch zu noch unterschiedlicheren Ansichten der Menschen bezüglich dessen, was Krankheiten auslöst, wie man sie behandelt und zu den politischen, ökonomischen und institutionellen Systemen im Gesundheitssystem. Wenn Wissenschaftler also forschen und wir darüber in Journalen, den Medien oder sozialen Medien lesen, wird die Aufnahme dieses Wissens von den großen Debatten und der persönlichen politischen Einstellung der Menschen beeinflusst.

Wie der Statistiker und Rundfunksprecher Tim Hartford erklärt, ist die emotionale Rezeption von wissenschaftlichen Beweisen ein nachgewiesener gewichtiger Faktor, der unsere Meinung zu Statistiken und statistisch basierter Wissenschaft beeinflusst. Kurz gesagt, wir glauben, was wir befürworten und möchten das, was wir nicht befürworten, widerlegen, ungeachtet der tatsächlichen Datenlage. Ein Effekt, der sogar auf die Spitze getrieben wird, wenn Menschen besonders intelligent oder auf einem bestimmten Gebiet viel Fachwissen haben [1]. Das erklärt für mich viel von dem, was ich bisher an Reaktionen auf die Pandemie wahrgenommen habe.

Wenn wir uns also Cannabis und Covid-19 anschauen, greift das gleiche Phänomen. Jene, die von Cannabis als Medizin überzeugt sind, werden sich Daten ansehen, die ihre Einstellung stützen, und jene ignorieren, die ihr widersprechen, während diejenigen, die Cannabis immer noch als problematische Medizin ansehen, dazu passende Daten befürworten und die positiven Seiten ignorieren (siehe beispielsweise eine Studie zu einer Cannabis-induzierten psychischen Störung im Zusammenhang mit Covid [2]).

Cannabis, Covid und der Zytokinsturm

Der Hauptgrund für die Mortalität von COVID-10 ist akutes Lungenversagen. Diese Auswirkung geht mit einer zweistufigen Immunreaktion einher. In der ersten Phase zeigt der Körper eine Reaktion zur Bekämpfung der Krankheit. Wenn die Sache bedrohlich wird, führt diese Reaktion zu einer zweiten Phase, bei der der Körper ein Virus-induziertes Zytokinsturm-Syndrom erzeugt [3]. Einfach formuliert ist ein Zytokinsturm eine Kaskade von übertriebenen Immunreaktionen, die zu schwerwiegenden Problemen führen können. Beim Atemwegssystem sind es spezifisch die Lungenepithelzellen, die eine entscheidende Rolle bei der Ausschüttung von entzündungsfördernden Zytokinen spielen [4][5]. Cannabis ist mit der Unterdrückung von Immun- und Entzündungsfunktionen in Zusammenhang gebracht [6] und deshalb als mögliches Covid-Behandlungsmittel in Betracht gezogen worden[7][8], weil es das Potenzial besitzt, den Zytokinsturm zu unterdrücken [9].

Die Quellen von Cannabis und Covid-Studien

Viele Firmen handeln mit Extrakt-basierter Cannabismedizin, und es sind einige von der Industrie geförderte Studien erschienen, die darauf hinweisen, dass manche dieser Extrakte hilfreich bei der Covid-Behandlung sein könnten. Doch für solch wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse ist die Wahl der Publikation ziemlich kurios. Eine Firma veröffentlichte ihre Produktforschung zum Beispiel in dem Journal „Ageing“. Es ist auf den ersten Blick nur schwer erkennbar, wie diese Art von Forschung in das Fachgebiet dieses Journals passen soll. Die Firma testete ihre eigene Linie von CBD-Extrakten und fand heraus, dass diese den Level des Proteins ACE2 verringerten, was möglicherweise einen Einfluss auf das Eindringen von Covid in den menschlichen Körper über das Gewebe hat [10].

Mit unabhängigerem, interessenskonfliktfreiem Hintergrund nutzte eine Studie aus Oregon, die in dem Journal of Natural Products veröffentlicht wurde, massenselektive Affinitäts-Spektrometrie, um zu zeigen, dass die in Hanf enthaltene Cannabigerolsäure und Cannabidiolsäure nicht nur das Eindringen des SARS-CoV-2-Virus, sondern auch der SARS-CoV-2-Alpha-Variante B.1.1.7 und der Beta-Variante B.1.351 in die Zellen verhinderte [11]. Während dieser Studie in den Medien viel Aufmerksamkeit zuteilwurde und auch von dem Cannabis-Berichterstatter von Forbes thematisiert wurde [12], zählen solche Journale, obwohl sie wichtige Wissensbeiträge liefern, nicht zu den führenden Publikationen der Wissenschaftsgemeinde.

Cannabis und Covid-Behandlung?

Die potentielle Behandlung von Covid mit Cannabis ist auch viel komplizierter als von diesen frühen Studien dargestellt. Während manche Inhaltsstoffe eine entzündungshemmende Wirkung haben und die Zytokin-Sekretion in den Lungenepithelzellen reduzieren, haben andere Inhaltsstoffe wiederum eine umgekehrte, entzündungsfördernde Wirkung. Eine in dem führenden Wissenschaftsjournal Nature veröffentlichte Studie bekräftigte aber, dass Phytocannabinoide (Stoffe, die aus der ganzen Pflanze gewonnen werden, anstelle der Verwendung einer Kombination von Cannabis-basierten Extrakten) auf zellulärer Ebene das Potenzial besitzen, zu einer Covid-Behandlungsform entwickelt zu werden.

Weil jedoch andere Wirkstoffkombinationen, vor allem solche, bei denen extrahierte Terpene enthalten sind, eine nachteilige Wirkung haben können, warnt die Studie, dass Behandlungen mit Cannabis vermieden werden sollten bis weitere Studien detailliert klären, welche Formen von Cannabis-Behandlung eine förderliche Wirkung haben[13].  Beispielsweise nehmen viele Cannabis-Patienten die Medikation über die Lunge auf, doch diese ist das Hauptangriffsziel des Covid-Virus. Deshalb gibt es Forschungsarbeiten zu Cannabis und Covid, die besagen, dass Cannabis entweder durch Verdampfen [14], Rauchen [15] oder den Mischkonsum von Cannabis mit Tabak [16]  zu Lungenverletzungen beiträgt, was die klinischen Komplikationen bei Covid-Patienten weiter verschlimmert [17]. Es gibt auch eine Studie, die besagt, dass starker Konsum von Cannabis und Alkohol die Atemwegsentzündung bei Mäusen mit einer Lungenentzündung verschlimmert [18].

Angesichts der Tatsache, dass Covid bei den Menschen die Unterschiede der Akzeptanz von wissenschaftlichen Beweisen und der Definition von „Wahrheiten“ und „Fakten“ vergrößert hat, könnte Cannabis zu einem weiteren Ball werden, der willkürlich herumgeschossen und Teil des Kampfes um die Deutungshoheit von Wissen wird, der momentan von Aktivisten und Wissenschaftlern in den sozialen Medien geführt wird.

Wenn Du Dich tiefgründiger mit diesem Thema befassen und einen Einblick erhalten möchtest, wie die Debatte rund um Covid die Cannabisforschung prägen könnte, solltest Du einen Artikel von Theodore Caputi im International Journal of Drug Policy lesen. Er sagt beispielsweise: „Was man bei Cannabis von Covid lernen kann: Die Hydroxychloroquin-Forschung gibt den nächsten Schritt für die medizinische Cannabisforschung vor“ [18]. Caputi erklärt detailliert, wie wissenschaftliche Forschung publiziert und diskutiert wird und wendet diese Analyse dann darauf an, wie wir die Cannabis-Wissenschaft zukünftig bewerten könnten. Da sowohl das Thema Covid als auch Cannabis sehr umstritten ist, stellt sich aber die Frage, inwieweit die Menschen ihn ohne emotionale Vorverurteilung lesen werden.

  1. Tim Hartford, 'How to Make the World Add Up' Hachette Book Group https://www.hachette.co.uk/titles/tim-harford/how-to-make-the-world-add-up/9780349143866/
  2. Kaggwa, Mark Mohan et al. “Cannabis-Induced Mania Following COVID-19 Self-Medication: A Wake-Up Call to Improve Community Awareness.” International medical case reports journalvol. 14 121-125. 25 Feb. 2021, doi:10.2147/IMCRJ.S301246
  3. Gao, Y. et al.Diagnostic utility of clinical laboratory data determinations for patients with the severe COVID-19. J. Med. Virol.92, 791–796 (2020). DOI: 10.1002/jmv.25770
  4. https://www.verywellhealth.com/cytokine-storm-syndrome-4842383
  5. Mehta, P. et al.COVID-19: Consider cytokine storm syndromes and immunosuppression. Lancet395, 1033 (2020). DOI:https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30628-0
  6. Rizzo MD, Henriquez JE, Blevins LK, Bach A, Crawford RB, Kaminski NE. Targeting cannabinoid receptor 2 on peripheral leukocytes to attenuate inflammatory mechanisms implicated in HIV-associated neurocognitive disorder. J. Neuroimmune Pharmacol.doi: 10.1007/s11481-020-09918-7
  7. Rossi F, Tortora C, Argenziano M, Di Paola A, Punzo F. Cannabinoid receptor type 2: a possible target in SAR-CoV-2 (CoV-19) infection?Int. J. Mol. Sci.21(11) doi: 10.3390/ijms21113809
  8. Costiniuk CT, Jenabian MA. Acute inflammation and pathogenesis of SAR-CoV-2 infection: cannabidiol as a potential anti-inflammatory treatment. Cytokine Growth Factor Rev.53, 63–65 (2020) doi: 10.1016/j.cytogfr.2020.05.008
  9. Onaivi, E.S. and Sharma, V., 2020. Cannabis for COVID-19: can cannabinoids quell the cytokine storm?. Future Science OA, 6(8), p.FSO625. https://doi.org/10.2144/fsoa-2020-0124
  10. Wang B, Kovalchuk A, Li D, et al. In search of preventive strategies: novel high-CBD Cannabis sativaextracts modulate ACE2 expression in COVID-19 gateway tissues. Aging (Albany NY). 2020;12(22):22425-22444. doi:10.18632/aging.202225
  11. van Breemen RB, Muchiri RN, Bates TA, Weinstein JB, Leier HC, Farley S, Tafesse FG. Cannabinoids Block Cellular Entry of SARS-CoV-2 and the Emerging Variants. J Nat Prod. 2022 Jan 10:acs.jnatprod.1c00946. DOI: 10.1021/acs.jnatprod.1c00946
  12. https://www.forbes.com/sites/ajherrington/2022/01/11/study-finds-cannabis-compounds-prevent-infection-by-covid-19-virus/?utm_campaign=forbes&utm_source=facebook&utm_medium=social&utm_term=Valerie&fbclid=IwAR345q6WGowm0PlVXDWBiWB4Nj9uAlL_lGzg7K1zHrqIkXaBmGuCcRhDk2k&sh=34ea3feb1753
  13. Anil, S.M., Shalev, N., Vinayaka, A.C. et al.Cannabis compounds exhibit anti-inflammatory activity in vitro in COVID-19-related inflammation in lung epithelial cells and pro-inflammatory activity in macrophages. Sci Rep11, 1462 (2021). https://www.nature.com/articles/s41598-021-81049-2
  14. Darmawan DO, Gwal K, Goudy BD, Jhawar S, Nandalike K. Vaping in today’s pandemic: E-cigarette, or vaping, product use–associated lung injury mimicking COVID-19 in teenagers presenting with respiratory distress. SAGE Open Med Case Rep 2020 doi: 10.1177/2050313X20969590
  15. Downer EJ. Cannabinoids and innate immunity: taking a toll on neuroinflammation. Sci World J. 2011;11:855–65. DOI: 10.1100/tsw.2011.84
  16. Brake SJ, Barnsley K, Lu W, McAlinden KD, Eapen MS, Sohal SS. Smoking upregulates angiotensin-converting enzyme-2 receptor: a potential adhesion site for novel coronavirus SARS-CoV-2 (Covid-19).J Clin Med. 2020; 9:841. https://doi.org/10.3390/jcm9030841
  17. Borgonhi, E.M., Volpatto, V.L., Ornell, F. et al.Multiple clinical risks for cannabis users during the COVID-19 pandemic. Addict Sci Clin Pract16, 5 (2021). https://doi.org/10.1186/s13722-021-00214-0
  18. Sivaraman, V.; Richey, M.M.; Nasir, A. Alcohol, Cannabis and Crossfading: Concerns for COVID-19 Disease Severity. Biology2021, 10, 779. https://doi.org/10.3390/biology10080779

18 Caputi TL. What cannabis can learn from Covid: Hydroxychloroquine research suggests the next step for medical cannabis research. Int J Drug Policy. 2021;93:103133. https://doi.org/10.1016/j.drugpo.2021.103133

Leave a Reply